Steuerhinterziehung mittels Milchquote

Ist es strafbar, wenn sie Milch, die aus den alten Bundesländern stammt, als solche aus den neuen Bundesländern deklarieren? Ja, und zwar als Steuerhinterziehung. Denn eine Steuerhinterziehung kann ein Landwirt auch durch Manipulationen bei Erhebung der “Milchabgabe” begehen. Diese Auffassung bestätigte jetzt das Bundesverfassungsgericht und nahm die Verfassungsbeschwerden eines hessischen und eines thüringischen Landwirts, die sich gegen ihre Verurteilung wegen Steuerhinterziehung richteten, nicht zur Entscheidung an.

Steuerhinterziehung mittels Milchquote

Die Marktorganisation für Milch

Ab 1964 führte die Europäische Gemeinschaft schrittweise eine gemeinsame Marktorganisation für Milch ein, die Interventionsmaßnahmen zur Stützung des Milchpreises und die Festlegung eines Richtpreises für Milch durch den Rat vorsah. Um Überschussproduktionen zu vermeiden, wurde bei den Erzeugern oder den Käufern von Kuhmilch für fünf aufeinander folgende Milchwirtschaftsjahre eine zusätzliche Abgabe erhoben, die bei Überschreitung bestimmter Referenzmengen fällig werden sollte. Für jeden Mitgliedstaat wurde eine Gesamtgarantiemenge festgesetzt. Durch Verordnung (EWG) Nr. 3577/90 des Rates vom 4. Dezember 1990 über die für die Landwirtschaft erforderlichen Übergangsmaßnahmen und Anpassungen aufgrund der Herstellung der deutschen Einheit erklärte der Gemeinschaftsgesetzgeber die Zusatzabgabenregelung für auf das Gebiet der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik ab 1. April 1991 anwendbar.

Mit der Verordnung Nr. 3950/92 wurde das Milchquotensystem grundlegend neu geregelt. Art. 1 der Verordnung Nr. 3950/92 traf die grundlegende Bestimmung über die Erhebung der Abgabe für weitere sieben Milchwirtschaftsjahre ab 1. April 1993 und setzte deren Höhe auf 115 % des Milchrichtpreises fest. Zur Höhe der einzelbetrieblichen Referenzmengen bestimmte Art. 4 Abs. 1, dass diese grundsätzlich der am 31. März 1993 zur Verfügung stehenden Menge entsprechen sollte. Bestimmungen über die Höhe der den Mitgliedstaaten zustehenden Gesamtgarantiemengen fanden sich in den Milchwirtschaftsjahren 1996/1997 bis 1998/1999 in Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 3950/92, wobei jeweils Teile der für Deutschland ausgewiesenen Gesamtmengen in einer Fußnote für die neuen Länder vorgesehen waren. Hinsichtlich der Modalitäten der Abgabenerhebung sah Art. 2 Abs. 1 Unterabs. 1 vor, die bei Überschreitung der Gesamtgarantiemengen fällige Abgabe auf alle Erzeuger zu verteilen, die zur Mengenüberschreitung beigetragen hatten. Art. 2 Abs. 1 UAbs 2 eröffnete den Mitgliedstaaten insofern die Möglichkeit, die Überschreitung von Referenzmengen durch Verrechnung mit ungenutzten Referenzmengen anderer Erzeuger zu kompensieren.

Die Umsetzung der gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben zur Milchmarktordnung erfolgte in Deutschland über das Marktorganisationsgesetz.

Auf der Grundlage entsprechender Verordnungsermächtigungen in § 8 Abs. 1 Satz 1 MOG und § 12 Abs. 2 S. 1 MOG traf die Milch-Garantienmengen-Verordnung, nähere Bestimmungen über die Durchführung der Verordnung Nr. 3950/92. § 7b Abs. 1 MGV ermöglichte es den Käufern von Milchprodukten, im Regelfall also den Molkereien, Anlieferungs-Referenzmengen, die im jeweiligen Zwölfmonatszeitraum nicht genutzt worden waren (Unterlieferungen), anderen Milcherzeugern, deren Lieferungen die ihnen zugeteilte Anlieferungs-Referenzmenge überschritten hatten (Überlieferer), nachträglich zuzuteilen. Allerdings statuierte Satz 8 ein Saldierungsverbot zwischen alten und neuen Ländern:

Nicht genutzte Anlieferungs-Referenzmengen, die sich auf Betriebe oder Betriebsteile in dem in Artikel 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet beziehen, dürfen nur anderen Milcherzeugern, deren Betrieb ganz oder teilweise in diesem Gebiet liegt, zugeteilt werden; dies gilt für Anlieferungs-Referenzmengen, die sich auf Betriebe oder Betriebsteile außerhalb dieses Gebietes beziehen, entsprechend.

Die Strafbarkeit der Hinterziehung der zusätzlichen Abgabe auf Milch folgte aus § 12 Abs. 1 Satz 1 MOG, wonach auf Abgaben zu Marktordnungszwecken, die nach Regelungen im Sinne des § 1 Abs. 2 hinsichtlich Marktordnungswaren erhoben wurden, die Vorschriften der Abgabenordnung – einschließlich des § 370 AO – entsprechend anzuwenden waren. § 35 MOG enthielt ergänzende Vorschriften über die Anwendung der „nach § 12 Abs. 1 Satz 1 anzuwendenden Straf- und Bußgeldvorschriften der Abgabenordnung“.

Der den Verfassungsbeschwerden zugrunde liegende Sachverhalt

Auf der Grundlage dieser Ende der 1990er Jahre geltenden europäischen Verordnung (EWG) Nr. 3590/92 verfügten die Milcherzeuger über sogenannte Referenzmengen, die jährlich produziert werden durften; bei Überschreitung der Referenzmengen wurde eine Abgabe in Höhe von 115 % des Milchpreises erhoben. „Zuviellieferungen“ einzelner Erzeuger durften grundsätzlich mit „Zuweniglieferungen“ anderer Hersteller verrechnet (saldiert) werden. Eine Saldierung im Verhältnis zwischen Erzeugern in den alten und neuen Bundesländern war aber durch § 7b MGV, der auf der Grundlage des Markordnungsgesetzes vom Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten erlassenen Milch-Garantiemengen-Verordnung, ausgeschlossen. Auf die Abgabe waren nach § 12 Abs. 1 Satz 1 MOG die Bestimmungen der Abgabenordnung einschließlich der Strafbestimmungen anzuwenden.

Die Beschwerdeführer – Milcherzeuger aus Hessen und Thüringen – sind auf der Grundlage von § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO in Verbindung mit Art. 12 Abs. 1 Satz 1 MOG zu Freiheitsstrafen verurteilt worden, weil sie sich daran beteiligten, in den alten Ländern erzeugte Milch als Milch aus den neuen Ländern auszugeben, um entgegen § 7b MGV von ungenutzten Referenzmengen aus den neuen Ländern zu profitieren.

Das Bundesverfassungsgericht hat die gegen die Verurteilungen gerichteten Verfassungsbeschwerden nicht zur Entscheidung angenommen, die den Verurteilungen zugrunde liegenden Vorschriften sind nach Überzeugung der Verfassungsrichter mit dem Grundgesetz vereinbar.

Die Strafbarkeit als Steuerhinterziehung

Die für die Verurteilung der Beschwerdeführer relevanten Vorschriften des materiellen Abgabenrechts waren – soweit sie der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht unterliegen – formell und materiell verfassungsgemäß. Insbesondere beinhaltete § 7b MGV keinen Eingriff in Art. 12 Abs. 1 oder Art. 14 Abs. 1 GG und führte auch nicht zu einer verfassungsrechtlich unzulässigen Ungleichbehandlung. Milch-Referenzmengen, die westdeutschen Milcherzeugern aufgrund der Milch-Garantiemengen-Verordnung 1984 ursprünglich zugeteilt worden waren, wurden durch das Saldierungsverbot nicht berührt; soweit die “eigene”, zugeteilte Referenzmenge reichte, durften westdeutsche Milcherzeuger auch nach Einführung des Saldierungsverbotes weiterhin abgabefrei Milch liefern. Die Vorschrift beruhte auf einer hinreichend bestimmten Ermächtigungsgrundlage und war auch nicht wegen Verstoßes gegen das Zitiergebot des Art. 80 Abs. 1 Satz 3 GG unwirksam.

Der Straftatbestand des § 370 Abs. 1 AO in Verbindung mit § 12 Abs. 1 MOG genügte den Anforderungen des strafrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatzes aus Art. 103 Abs. 2, Art. 104 Abs. 1 GG. Dies gilt auch, soweit daraus die Strafbarkeit der Hinterziehung der zusätzlichen Abgabe auf Milch nach der Verordnung Nr. 3950/92 in den Milchwirtschaftsjahren 1996/1997 bis 1998/1999 folgte. Insbesondere waren für die in Betracht kommenden Adressaten der Norm – nämlich Landwirte und andere beruflich mit der Milcherzeugung und der entsprechenden Abgabenerhebung in Berührung kommenden Personen – die Strafbarkeitsvoraussetzungen in hinreichender Weise erkennbar. Wer das Quotensystem nach Marktordnungsgesetz, Verordnung Nr. 3950/92 und Milch-Garantiemengen-Verordnung nicht wenigstens der Sache nach kannte, stand von vornherein nicht in Gefahr, sich wegen unlauterer Beteiligung daran strafbar zu machen.

Die Verweisung auf das materielle Abgabenrecht führte auch nicht zu einem Verlust der parlamentarischen Verantwortung für die Entscheidung über die Grenzen der Strafbarkeit. Auf der Rechtsfolgenseite waren Art und Maß der Strafe abschließend im formellen Gesetz festgelegt. Aber auch auf der Tatbestandsseite gingen die dem Gemeinschaftsgesetzgeber und dem nationalen Verordnungsgeber verbleibenden Einflussmöglichkeiten über eine verfassungsrechtlich zulässige Spezifizierung jedenfalls nicht hinaus. § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO erschöpft sich nicht in einer bloßen Weiterverweisung auf das Abgabenrecht, sondern lässt somit einen bestimmten Unrechtstyp deutlich erkennen, indem er die tatbestandliche Handlung (“wer den Finanzbehörden oder anderen Behörden über steuerlich erhebliche Tatsachen unrichtige oder unvollständige Angaben macht”) wie den Taterfolg (“und dadurch Steuern verkürzt oder für sich oder einen anderen nicht gerechtfertigte Steuervorteile erlangt”) in einer allgemeinverständlichen, einer Parallelwertung in der Laiensphäre zugänglichen Weise ausführt.

Aber: nur eingeschränkte Überprüfung

Die Frage, ob die zusätzliche Abgabe durch Milch wegen ihrer „erdrosselnden“ Höhe Art. 14 Abs. 1 GG oder andere Grundrechte verletzte, ist einer Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht entzogen. Das Bundesverfassungsgericht übt seine Grundrechtskontrolle über in Deutschland angewandtes Unionsrecht grundsätzlich nicht mehr aus, solange und soweit die Europäische Union einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Union generell gewährleistet, der dem vom Grundgesetz jeweils als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im Wesentlichen gleich zu achten ist. Eine innerstaatliche Rechtsvorschrift, die eine Richtlinie in deutsches Recht umsetzt, wird insoweit nicht an den Grundrechten des Grundgesetzes gemessen, als das Unionsrecht keinen Umsetzungsspielraum lässt, sondern zwingende Vorgaben macht. Entsprechend kann auch eine innerstaatliche Rechtsvorschrift, die nicht zur Umsetzung, sondern zur Ergänzung und Durchführung zwingenden Unionsrechts – wie vorliegend der Verordnung Nr. 3950/92 – erlassen worden ist, insoweit nicht am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes überprüft werden, als sich eine Verfassungsbeschwerde gegen die vom Unionsgesetzgeber getroffenen Festlegungen richtet.

Danach entzieht sich die Festlegung der Höhe der Zusatzabgabe auf 115% des Milch-Richtpreises einer Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht; denn sie ergab sich unmittelbar aus Art. 1 der Verordnung Nr. 3950/92, ohne dass insofern dem nationalen Gesetz- oder Verordnunggeber Spielräume eröffnet worden wären.

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 29. April 2010 – 2 BvR 871/04 und 2 BvR 414/08